Zusammenfassung
Das Zeiterleben verändert sich im Lebenslauf systematisch. Vergeht die Zeit in der
Jugend im Längsschnitt recht langsam und im Querschnitt rasch, sieht sich der ältere
Mensch der inversen Situation gegenüber. Doch bezüglich des Erlebens der eigenen Zeit
gibt es auch intra- und interindividuelle Unterschiede. Das Zeiterleben als zentraler
Aspekt der eigenen Identität ist hoch sensibel bezüglich Veränderungen des Selbsterlebens,
wie es bei psychischen Störungen der Fall ist. Bei Psychosen zerfallen dementsprechend
die zeitliche Identität und der gelebte Synchronismus, die Gewissheit sich mit den
Mitmenschen im gleichen Zeitraum zu befinden. Es kommt zur Auflösung der Kontinuität
von Zeit, einer Art Zeitkompression, bei der es kein Vorher und Nachher gibt. Das
Zeiterleben des depressiven Menschen gleicht in vielem dem des alten Menschen (Erstarrung
im Querschnittserleben), jenes des Manikers dem des Kindes (entsprechend Beschleunigung).
Zeitliche Dissoziation ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis von Psychosen aus
systemischer Sicht. Dabei wird synchrone Dissoziation von diachroner Dissoziation
unterschieden. Bei ersterer „lösen” sich die Konflikte durch extreme Gleichzeitigkeit.
Durch Unterschreitung des minimalen Zeitintervalls werden Unterscheidungen und dadurch
Gegensätzlichkeiten nicht mehr möglich. Bei zweiterer ist durch die Überschreitung
des maximalen Zeitintervalls eine Gegensätzlichkeit nicht mehr möglich, da die Integration
der widersprüchlichen Aspekte nicht mehr möglich ist. Ein Konflikt braucht eine polare
Bezogenheit; diese ist in diesem Falle nicht mehr gegeben. Beide Formen von Dissoziation
führen zur Pseudoharmonisierung von zwischenmenschlichen Systemen, und das trotz Vorhandenseins
von Konfliktpotenzial. Man findet synchrone Dissoziation in primären Gemeinschaften
mit schizophrenen Patienten, während diachrone Dissoziationsformen Familien mit Mitgliedern,
die eine affektive Störung aufweisen, typischerweise vorbehalten sind. In Familien
mit Patienten, die schizoaffektive Störungen aufweisen, findet man synchrone als auch
diachrone Dissoziation. In den Übergängen fehlt die dissoziative Deeskalation, da
kommt es regelmäßig zur Konflikteskalation.
Abstract
The experience of time changes during life. In the youth time changes slowly from
the longitudinal point of view, looking cross on life very fast. In older ages regularly
it is the opposite matter, although there are throughout all ages significant intra-
and interindividually differences. Experience of time is highly sensitive towards
changes of one's self-experience, which can be well observed in psychiatric disorders.
In case of psychosis identity of time and experienced synchronism (as certainty to
be in the time with others) will be destroyed. There is a kind of breaking up time,
a compression of time, where there is no before nor after. In depressed people time
experience is similar to elder people, accordingly manic patients feel something like
children in this sense. Dissociation of time has got a key role for understanding
psychosis from the systemic point of view. Synchrone dissociation is distinguished
from diachrone dissociation. In the first case conflicts will be “solved” through
excessive simultaneity, undercutting the minimal time interval. The possibilities
of differences are made impossible. Secondly the maximum of the time interval is exceeded;
therefore the integration of opposite aspects is impossible. Equally no conflict will
be possible. Both kinds of dissociation lead to “pseudo-harmony” of interrelational
systems, despite of potency for conflicts. In family systems with schizophrenic members
synchrone dissociation is typical, whereas diachrone dissociation is common in those
with affective disorders. Both of them will be found in communicative systems with
patients suffering from schizoaffective disorders. In between occur fierce arguments,
when “protection” of dissociation is not granted.
Literatur
- 1 Hildebrandt G, Moser M, Lehofer M. Chronobiologie und Chronomedizin. Stuttgart:
Hippokrates 1998: 7-29
- 2 Gebsattel V E v. Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Berlin: Springer
1954
- 3 Minkovski E. Die gelebte Zeit. Bd. 1 und 2. Salzburg: Otto Müller 1971
- 4 Retzer A. Systemische Familientherapie von Psychosen. Göttingen: Hogrefe 2004: 58-61
- 5
Ciompi L.
Über abnormes Zeiterleben einer Schizophrenen.
Z Psychiatr Neurol.
1961;
142
100-121
- 6 Minkovski E. Die gelebte Zeit. 2. Salzburg: Otto Müller 1971: 166
- 7 Scharfetter C. Schizophrene Menschen. Weinheim: Beltz 1999
- 8
Zulley J, Berger M, Peter J H, Clarenbach P. (Hrsg.) .
Chronobiologische Grundlagen der Schlafmedizin.
Wiener Medizinische Wochenschrift.
1995;
145
383-532
- 9 Grüsser O J. Zeit und Gehirn. In: Gumin H, Meier H (Hrsg.). Die Zeit. München: Piper
1983
- 10 Epstein D. Das Erleben der Zeit in der Musik. In: Gumin H, Meier H (Hrsg.). Die
Zeit. München: Piper 1983
- 11 Pöppel E. Erlebte Zeit und die Zeit überhaupt: Ein Versuch der Integration. In:
Gumin H, Meier H (Hrsg.). Die Zeit. München: Piper 1983
- 12
Bateson G, Jackson D D, Haley J, Weakland J W.
Towards a theory of schizopherenea.
Behav Sci.
1956;
1
215-246
- 13
Wynne L C, Singer M T.
Denkstörungen und Familienbeziehungen bei Schizophrenen. Teil 1: Eine Forschungsstrategie.
Psyche.
1965;
19
96-108
- 14
Wynne L C, Rykoff I M, Day J, Hirsch S J.
Pseudo mutuality in the family relations of schizophrenics.
Psychiatry.
1958;
21
205-220
- 15 Retzer A. Systemische Familientherapie von Psychosen. Göttingen: Hogrefe 2004:
68-69
- 16
Rohde A, Marneros A.
Suicidale Symptomatik im Langzeitverlauf schizoaffektiver Psychosen.
Nervenarzt.
1990;
61
164-169
- 17 Retzer A. Systemische Familientherapie von Psychosen. Göttingen: Hogrefe 2004:
71-72
- 18
Stierlin H.
Die „Beziehungsrealität Schizophrener”.
Psyche.
1981;
35
49-65
- 19 Retzer A. Systemische Familientherapie von Psychosen. Göttingen: Hogrefe 2004:
78-83
- 20 Retzer A. Familie und Psychose. Stuttgart: Gustav Fischer 1994
Michael Lehofer
Psychiatrie I, Sigmund-Freud-Klinik Graz
Wagner-Jauregg-Platz 1
8053 Graz
Österreich
Email: michael.lehofer@lsf-graz.at